Beim heutigen Jahrespressegespräch in Karlsruhe sah der Präsident des Oberlandesgerichts Karlsruhe Alexander Riedel auf die Entwicklungen des vergangenen Jahres in der badischen Justiz zurück, warf den Blick aber auch in die Zukunft.
Im Mittelpunkt des Gesprächs standen die Möglichkeiten und Grenzen des Einsatzes künstlicher Intelligenz im Bereich der Rechtsprechung. Alexander Riedel wies darauf hin, dass die Gerichte im gesamten Bundesgebiet seit einigen Jahren insbesondere im Zusammenhang mit dem „Dieselskandal“ mit einer großen Zahl von Verfahren befasst werden, in denen inhaltlich häufig die gleichen oder sehr ähnliche Sach- und Rechtsfragen zu beantworten sind. So sind allein am Oberlandesgericht Karlsruhe im Jahr 2021 rund 1.930 neue Berufungsverfahren im Zusammenhang mit Dieselmotoren eingegangen, was gegenüber dem Jahr 2020 (1.800 neue Dieselverfahren) eine nochmalige Steigerung bedeutete. Die Dieselverfahren stellten dadurch fast 45 Prozent der neu eingegangenen zivilrechtlichen Berufungsverfahren dar. Seit dem Jahr 2018 sind inzwischen über 7.400 Berufungsverfahren im Zusammenhang mit dem „Dieselskandal“ beim Oberlandesgericht Karlsruhe anhängig geworden.
Diese sogenannten Massenverfahren zeichnen sich dadurch aus, dass sehr häufig für beide Parteien auf solche Komplexe spezialisierte Rechtsanwaltskanzleien agieren und ausgesprochen umfangreiche Schriftsätze mit oftmals über 100 Seiten bei den Gerichten einreichen. Alexander Riedel: „Es ist kein Geheimnis, dass einige Rechtsanwältinnen und Rechtsanwälte im Bereich der Massenverfahren zunehmend spezielle Informationstechnik zum Einsatz bringen. ‚Legal Tech‘ ermöglicht es, durch die Verknüpfung von Datenbanken und Textbausteinen etwa Klageschriften oder Berufungsbegründungen nahezu automatisiert zu erstellen und dadurch erhebliche Synergieeffekte zu erzielen. Ich habe den Eindruck, dass in der Rechtsanwaltschaft auf diese Weise bereits neue und sehr lukrative Geschäftsmodelle entstanden sind, die durchaus offensiv beworben werden.“
Diese Entwicklungen wirken sich mehr und mehr auch auf die Tätigkeit der Gerichte aus. Die unter Einsatz von „Legal Tech“ von der Anwaltschaft erstellten Schriftsätze müssen von den für die Verfahren zuständigen Richterinnen und Richtern gelesen und bearbeitet sowie von den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern der Geschäftsstellen verwaltet werden. Nicht nur die schiere Zahl der Massenverfahren, sondern auch der Umfang der Akten und der inhaltliche Gleichlauf vieler Verfahren stellen die in der Justiz tätigen Menschen vor besondere Herausforderungen. Diese Belastung kann sich auf die Arbeitszufriedenheit der Justizangehörigen negativ auswirken und in letzter Konsequenz sogar die Nachwuchsgewinnung erschweren.
Vor diesem Hintergrund ist bereits vielfach der Ruf nach einer gesetzgeberischen Reaktion – etwa durch die Einführung eines Vorabentscheidungsverfahrens oder von Vorgaben für einen strukturierten Parteivortrag – laut geworden. Daneben stellt sich für die Justiz aber auch die Frage, inwieweit sie mit den Entwicklungen der „Legal Tech“ mithalten und sich ebenfalls elektronischer Unterstützung bei der Strukturierung und Erfassung von Verfahrensinhalten, aber auch bei der inhaltlichen Entscheidung selbst bedienen kann. Zum Einsatz einer solchen Assistenzsoftware in der Justiz gibt es in Baden-Württemberg bereits erste positive Erfahrungen, die Alexander Riedel im Rahmen des Jahrespressegesprächs näher vorstellte.
So kommt in einem Zivilsenat des Oberlandesgerichts Karlsruhe eine Software zum Einsatz, die Schriftsätze aus verschiedenen Verfahren automatisiert vergleicht und etwaige Unterschiede kenntlich macht. Dadurch bleibt es den verantwortlichen Richterinnen und Richtern erspart, umfangreiche Schriftsätze, die augenscheinlich aus bereits aus vorangegangenen Verfahren bekannten Textbausteinen bestehen, Wort für Wort durchgehen und überprüfen zu müssen, ob die anscheinende inhaltliche Identität auch tatsächlich besteht. Diese Software hat sich in ihrem bisherigen Einsatz bewährt und bereits zu einer Effektivitätssteigerung geführt.
Weitere Überlegungen betreffen den Einsatz eines Computerprogramms, das den Richterinnen und Richtern die Kategorisierung von Verfahren vorschlagen kann. Dies kann bei einem „Dieselverfahren“ bedeuten, dass die Software beispielsweise den Hersteller des Kraftfahrzeugs, den verbauten Motor oder für die Frage einer möglichen Verjährung relevante Daten anhand der Schriftsätze der Parteien automatisiert ermittelt und für eine systematische Einordnung des Verfahrens verwendet. Ein solches „Fallkategorisierungstool“ ist bereits Gegenstand eines Pilotprojekts des Ministeriums der Justiz und für Migration Baden-Württemberg; sein Echteinsatz am Oberlandesgericht Stuttgart wird derzeit vorbereitet. In einem weiteren Schritt wäre es sogar vorstellbar, dass auf der Grundlage einer solchen Fallkategorisierung in Verbindung mit von den verantwortlichen Richterinnen und Richtern passgenau erarbeiteten Textbausteinen automatisiert ausformulierte Entscheidungsvorschläge erstellt werden. Zu einem solchen „Entscheidungsgenerator“ gibt es in Baden-Württemberg bisher keine praktischen Erfahrungen. Beim Amtsgericht Frankfurt am Main kommt eine solche Software im Bereich der dort gehäuft anfallenden Verfahren, die Fluggastrechte nach Flugverspätungen oder Flugausfällen betreffen, aber bereits zum Einsatz.
Alexander Riedel stellte zusammenfassend fest: „Die zunehmende Bedeutung künstlicher Intelligenz, die vor der Rechtsanwendung nicht Halt macht, bietet auch der Justiz viele spannende Perspektiven. Eines aber muss klar sein: Am Ende sind und bleiben gerichtliche Urteile, Beschlüsse und Verfügungen stets das Ergebnis der vollumfänglichen Entscheidungsfindung durch einen Menschen – die Richterin oder den Richter.“
Den Abschluss der Veranstaltung bildete die Vorstellung statistischer Zahlen zur Arbeit des Oberlandesgerichts Karlsruhe. Bei den Zivilsenaten des Gerichts sind im Jahr 2021 4.269 Berufungsverfahren eingegangen, was im Vergleich zum Vorjahr eine Steigerung um 11 Prozent und im Vergleich zu 2018 sogar eine Zunahme um 75 Prozent bedeutet. Diese Zahlen verdeutlichen erneut die weiterhin ausgesprochen hohe Belastung der Zivilsenate durch die aus dem „Diesel-Abgas-Skandal“ resultierenden Rechtsstreitigkeiten. Darüber hinaus hatten die Zivilsenate im Jahr 2021 1.121 neu eingegangene Beschwerdeverfahren zu bewältigen (2020: 1.179). Bei den Familiensenaten sind im Jahr 2021 insgesamt 2.129 Neueingänge zu verzeichnen gewesen (2020: 2.112) und bei den Strafsenaten insgesamt 2.230 neue Verfahren (2020: 2.271).
Auf diese im langjährigen Vergleich insgesamt hohen Verfahrenszahlen ist es zurückzuführen, dass das Oberlandesgericht Karlsruhe im Jahr 2021 nach dem Personalbedarfsberechnungssystem („Pebb§y“) im Bereich der Richterschaft einen personellen Deckungsgrad von lediglich 80 Prozent aufgewiesen hat. Dies bedeutet, dass dem Gericht rechnerisch rund 20 in Vollzeit tätige Richterinnen und Richter fehlten, um einen Deckungsgrad von 100 Prozent herbeizuführen.
Ergänzende Informationen zum Oberlandesgericht Karlsruhe:
Das Oberlandesgericht Karlsruhe ist eines von 24 Oberlandesgerichten in Deutschland und von diesen, gemessen an der Einwohnerzahl seines Bezirks, das sechstgrößte. Es ist Berufungs- und Beschwerdeinstanz in Zivilsachen, Beschwerdeinstanz in Familiensachen, Revisions- und Beschwerdeinstanz in Strafsachen sowie Rechtsbeschwerdeinstanz in Bußgeldsachen. Daneben bestehen einige Sonderzuständigkeiten.
Am Oberlandesgericht Karlsruhe sind 97 Richterinnen und Richter (darunter ein Präsident, ein Vizepräsident und 21 Vorsitzende) tätig. Das Gericht hat drei Strafsenate (zugleich Senate für Bußgeldsachen), 22 Zivilsenate (davon fünf Familiensenate), zwei Senate für Landwirtschaftssachen, einen Kartellsenat, einen Vergabesenat, einen Senat für Baulandsachen sowie einen Senat für Steuerberater- und Steuerbevollmächtigtensachen. Daneben bestehen beim Oberlandesgericht Karlsruhe das Schifffahrtsobergericht und das Rheinschifffahrtsobergericht. Sechs Zivilsenate (darunter zwei Familiensenate) und ein Senat für Landwirtschaftssachen sind in der Außenstelle des Oberlandesgerichts in Freiburg untergebracht; sie sind für Rechtsmittel gegen Entscheidungen der südbadischen Gerichte (Landgerichtsbezirke Freiburg, Konstanz, Offenburg und Waldshut-Tiengen) zuständig.