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Jahrespressegespräch mit dem Präsidenten des Oberlandesgerichts Karlsruhe. Jörg Müller: „Der Zivilprozess der Zukunft braucht alles: künstliche, natürliche und emotionale Intelligenz. Und Mut bei der Umsetzung neuer Möglichkeiten.“

Datum: 25.01.2024

Jahrespressegespräch mit dem Präsidenten des Oberlandesgerichts Karlsruhe. Jörg Müller: „Der Zivilprozess der Zukunft braucht alles: künstliche, natürliche und emotionale Intelligenz. Und Mut bei der Umsetzung neuer Möglichkeiten.“

Pressemitteilung vom 25. Januar 2024 (1/24)

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Jahrespressegespräch mit dem Präsidenten des Oberlandesgerichts Karlsruhe. Jörg Müller: „Der Zivilprozess der Zukunft braucht alles: künstliche, natürliche und emotionale Intelligenz. Und Mut bei der Umsetzung neuer Möglichkeiten.“

Beim heutigen Jahrespressegespräch in Karlsruhe richtete der Präsident des Oberlandesgerichts Karlsruhe Jörg Müller den Blick vor allem auf die Zukunft des Zivilprozesses. 

„‚ChatGPT‘ hat für viele Menschen erstmals erlebbar gemacht, was künstliche Intelligenz leisten kann und wie schnell sie dazulernt“, bemerkte Müller einleitend und ergänzte: „Im Dezember 2022 ist ChatGPT 3.5 noch knapp durch den einfachsten Teil des US-amerikanischen Anwaltsexamens gefallen. Im März 2023 hat ChatGPT 4 die komplette Prüfung bestanden – unter den zehn Prozent besten und ohne Training.“ Tatsächlich nutzen Anwältinnen und Anwälte wie auch Richterinnen und Richter KI zunehmend dort, wo sie große Stärken hat, etwa bei der strukturierten Aufbereitung umfangreicher Akten oder in Massenverfahren. In Baden-Württemberg findet etwa „OLGA“ für die Zuordnung von Diesel-Verfahren in Fallgruppen oder „Codefy“ für die Aktenanalyse schon Anwendung. Weitere Einsatzmöglichkeiten werden aktuell erprobt: zum Beispiel die Unterstützung von Bürgerinnen und Bürgern bei der Online-Antragstellung oder die automatische Anonymisierung von Entscheidungen für die Veröffentlichung. Müller verwies darauf, dass die Kombination aus Fachkräftemangel in allen Sparten und zunehmender Komplexität des Rechts den Einsatz von KI unumgänglich mache. „Die Beispiele aus Justiz und Anwaltschaft zeigen klar: KI kann bei juristischer Arbeit qualifiziert unterstützen. Wer möchte, dass Richterinnen und Richter für die Rechtsuchenden auch künftig das leisten können, was nie durch Technik ersetzt werden könnte, muss für eine Entlastung bei Routinearbeit durch KI sorgen.“

Müller betonte, dass die Chancen der Digitalisierung noch deutlich weiter reichen: „Wir sollten Abläufe und Strukturen kritisch prüfen, die aus Zeiten stammen, als wir noch von Papier und Postversand abhängig waren.“ Es gehe darum, nicht mehr nur Gewohntes digital abzubilden, sondern effektivere Verfahrenstechniken und einen einfacheren Zugang zum Recht für Bürgerinnen und Bürger zu ermöglichen. „Wir müssen uns die Frage stellen,“ so Müller, „ob es wirklich Akten und Schriftsätze braucht oder ob es nicht besser wäre, wenn jedes Verfahren einen eigenen Raum in einer Cloud hätte und alle Berechtigten dort unmittelbar ihre Informationen strukturiert eintragen und in Echtzeit abrufen könnten.“ So funktioniere zum Beispiel das belgische Insolvenzverfahren. Gericht und Anwaltsseite könnten online gemeinsam den Sachverhalt formulieren, der entschieden werden soll, wie es in Pilotprojekten zum sogenannten „Basisdokument“ derzeit erprobt wird. 

Mit neuer Technik könne zudem das Vertrauen der Bürgerinnen und Bürger in den Rechtsstaat gestärkt werden, wenn dadurch der Zugang einfacher, die Verfahren günstiger und die Entscheidungen verständlicher gestaltet würden. „Wir alle kennen gut funktionierende Online-Streitbeilegung aus dem Internet-Handel. Im Ausland wird dieselbe Software mit großem Erfolg auch bei Gericht eingesetzt. Viele Menschen erwarten deshalb, dass man auch die Justiz 24/7 online erreicht und dass zumindest in einfachen Fälle Verfahren schnell und ohne Zusatzkosten abgewickelt werden können.“ Dabei könnten KI-gestützte Chatbots mit Videoclips Bürgerinnen und Bürger durch Antragstellungen in Online-Verfahren führen, auf Fragen in einfacher Sprache antworten und sogar gütliche Einigungen zu vermitteln versuchen, bevor bei Bedarf ein menschlicher Richter eingeschaltet wird. „Kanada zeigt seit Jahren, was hier möglich ist“, bemerkte Müller unter Verweis auf das „Civil Resolution Tribunal“ in British Columbia, Kanada. 

Natürlich ergäben sich auch neue Fragen zur Öffentlichkeit der Gerichtsverhandlung, zur Beweiswürdigung und zur Datensicherheit. „Niemand will einen Online-Pranger und natürlich müssen wir schutzbedürftige Menschen davor bewahren, dass ihr Gesicht im Internet kursiert. Denn wir wollen, dass sich alle vor Gericht unbefangen und ohne Angst äußern können.“ Dennoch müsse man schon wegen der Ausweitung von Video-Verhandlungen über ein Justiz-Streaming nachdenken. Dies sei aber technisch und rechtlich nicht banal. Insofern mache es Sinn, dass sich der Gesetzgeber noch einmal etwas Zeit nehme im aktuellen Reformprozess. Im Beweisrecht müssten Richterinnen und Richter neue Digitalkompetenz erwerben, um etwa Deepfakes, die heute jeder mit kostenloser Software in Minuten erstellen könne, entlarven zu können. „Und wir wollen natürlich auch nicht unbemerkt mit Avataren verhandeln in der Video-Konferenz.“ Für die Datensicherheit werde in der Justiz in Baden-Württemberg schon heute professionell gesorgt. 

Ergänzend wies Müller darauf hin, dass bei allen Chancen der Digitalisierung deren Nebenwirkungen nicht außer Acht gelassen werden dürfen. „Manchmal braucht es einfach die Verhandlung von Angesicht zu Angesicht. Zum Eindruck einer Zeugenaussage gehört mehr als der Wortlaut, da kommt es auch auf Mimik, Gestik und das Bauchgefühl an. Und Justiz ist eben auch weit mehr als Rechtsanwendung: zu guter Rechtsprechung gehört es unbedingt, empathisch auf Menschen einzugehen, zugewandt zuzuhören und Verständnis zu zeigen, am Ende auch für Lösungen zu werben. Das geht von Mensch zu Mensch oft einfach besser.“ Die Entlastung durch neue Technik bedeute insofern die Chance, genau dafür wieder mehr Zeit und Freiraum zu gewinnen. 

„Wer den Zivilprozess der Zukunft gestalten will, muss daher alle Ressourcen klug und mutig nutzen: künstliche, natürliche und emotionale Intelligenz!“, fasste Müller die Herausforderung abschließend zusammen. 

Ergänzende Informationen zum Oberlandesgericht Karlsruhe:

Das Oberlandesgericht Karlsruhe ist eines von 24 Oberlandesgerichten in Deutschland und von diesen, gemessen an der Einwohnerzahl seines Bezirks, das sechstgrößte. Es ist Berufungs- und Beschwerdeinstanz in Zivilsachen, Beschwerdeinstanz in Familiensachen, Revisions- und Beschwerdeinstanz in Strafsachen sowie Rechtsbeschwerdeinstanz in Bußgeldsachen. Daneben bestehen einige Sonderzuständigkeiten.

Am Oberlandesgericht Karlsruhe sind 103 Richterinnen und Richter (darunter ein Präsident, ein Vizepräsident [dessen Stelle derzeit vakant ist] und 21 Vorsitzende) tätig. Das Gericht hat drei Strafsenate (zugleich Senate für Bußgeldsachen), 22 Zivilsenate (davon fünf Familiensenate), zwei Senate für Landwirtschaftssachen, einen Kartellsenat, einen Vergabesenat, einen Senat für Baulandsachen sowie einen Senat für Steuerberater- und Steuerbevollmächtigtensachen. Daneben bestehen beim Oberlandesgericht Karlsruhe das Schifffahrtsobergericht und das Rheinschifffahrtsobergericht. Sechs Zivilsenate (darunter zwei Familiensenate) und ein Senat für Landwirtschaftssachen sind in der Außenstelle des Oberlandesgerichts in Freiburg untergebracht; sie sind für Rechtsmittel gegen Entscheidungen der südbadischen Gerichte (Landgerichtsbezirke Freiburg, Konstanz, Offenburg und Waldshut-Tiengen) zuständig.

Bei den Zivilsenaten des Gerichts sind im Jahr 2023 (nach vorläufigen Zahlen) 3.211 Verfahren eingegangen, was im Vergleich zum Vorjahr (mit 4.457 Neueingängen) einen Rückgang von knapp 28 Prozent bedeutet. Grund dafür ist insbesondere die erneut deutlich rückläufige Zahl sogenannter „Dieselverfahren“, die in erster Linie dafür verantwortlich gewesen sind, dass die Eingangszahlen der Zivilsenate von 2017 bis 2019 von 3.629 auf 5.523 und damit um über 52 Prozent angestiegen und auch in den Jahren 2020 (5.028 Neueingänge) und 2021 (5.381 Neueingänge) auf diesem sehr hohen Niveau geblieben waren. Diese sogenannte „Dieselwelle“ wirkt in den noch zu bewältigenden Verfahrensbeständen der Zivilsenate spürbar nach. Um die aktuell anhängigen Zivilverfahren zu bewältigen, würden die Zivilsenate rechnerisch einen Zeitraum von über eineinhalb Jahren benötigen, wenn keinerlei neue Verfahren hinzukämen; bei den für Dieselverfahren zuständigen Senaten wäre sogar mit teils deutlich über drei Jahren zu kalkulieren, um alle derzeit anhängigen Verfahren abzuschließen. 

Bei den Familiensenaten sind im Jahr 2023 (nach vorläufigen Zahlen) 1.611 Verfahren neu eingegangen, was etwa auf dem Niveau des Vorjahres (mit 1.658 neu eingegangenen Verfahren) liegt. Die Verfahrensbestände der – von der „Dieselwelle“ nicht betroffenen – Familiensenate entsprechen rechnerisch ungefähr einem halben Jahr Arbeit.

Bei den Strafsenaten sind im Jahr 2023 (nach vorläufigen Zahlen) 2.145 Verfahren neu eingegangen, was ebenfalls ungefähr auf dem Niveau des Jahres 2022 (mit 2.103 neu eingegangenen Verfahren) liegt.

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